aus: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/stephane-hessels-pamphlet-empoert-euch-1580627.html

 Frankfurter Allemeine Zeitung (FAZ) Feuilleton

Das Motiv zum Widerstand ist die EmpörungMan wagt uns zu sagen, der Staat könne die Kosten dieser sozialen Errungenschaften nicht mehr tragen. Aber wie kann heute das Geld fehlen, da doch die Produktion seit der Befreiung beträchtlich gewachsen ist, während Europa damals in Trümmern lag? Das ist nur möglich, weil die von der Résistance bekämpfte Macht des Geldes niemals so groß, so anmaßend und egoistisch war wie heute und bis in die höchsten Ränge des Staates hinein über eigene Diener verfügt. Die inzwischen privatisierten Banken kümmern sich nur noch um ihre Dividenden und die gewaltigen Einkommen ihrer leitenden Manager, aber nicht um das Gemeinwohl. Noch nie hat man den Wettlauf ums Geld, die Konkurrenz, so sehr ermuntert.Das Grundmotiv der Résistance war die Empörung. Wir Veteranen rufen die jungen Generationen dazu auf, das Erbe der Résistance und ihre Ideale lebendig zu erhalten und weiterzugeben. Die Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Geistesleben und die ganze Gesellschaft dürfen nicht abdanken und sich von der Diktatur der internationalen Finanzmärkte beeindrucken lassen, die den Frieden und die Demokratie bedrohen.Ich wünsche jedem Einzelnen von Ihnen ein eigenes Empörungsmotiv. Denn das ist kostbar. Wenn etwas Sie empört, wie mich der Nazismus empörte, werden Sie militant, stark und engagiert. Man schließt sich diesem Strom der Geschichte an, und dieser Strom geht in Richtung größerer Gerechtigkeit und größerer Freiheit - aber nicht der unkontrollierten Freiheit des Fuchses im Hühnerstall. Was in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948 proklamiert wurde, gilt universell. Falls Sie jemandem begegnen, dem diese Rechte vorenthalten werden, bedauern Sie ihn und helfen Sie ihm, diese Rechte zu erobern.Gleichgültigkeit ist die schlimmste EinstellungEs mag ja sein, dass die Gründe für Empörung heute nicht mehr so deutlich zu erkennen sind. Wer befiehlt und wer entscheidet? Wir haben es nicht mehr mit einer kleinen Elite zu tun, deren Machenschaften leicht zu durchschauen sind. Die Welt ist groß, und wir spüren deutlich, wie sehr die Dinge miteinander verschränkt sind. Aber in dieser Welt gibt es Dinge, die unerträglich sind. Wer sie sehen will, muss genau hinsehen. Ich sage den jungen Leuten: Wenn ihr nur ein wenig sucht, werdet ihr solche Dinge finden. Am schlimmsten ist es, wenn man sagt: "Damit habe ich nichts zu tun. Das ist mir egal." Wer sich so verhält, verliert eine der wesentlichen und unverzichtbaren Eigenschaften, die den Menschen ausmachen: die Fähigkeit zur Empörung und das Engagement, das daraus erwächst.Schon heute sind zwei große neue Herausforderungen erkennbar
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1. Der gewaltige Abstand zwischen den sehr Armen und den sehr Reichen, der immer weiter wächst. Die ganz Armen verdienen in unserer heutigen Welt nicht einmal zwei Dollar am Tag. Wir dürfen nicht zulassen, dass dieser Abstand noch weiter wächst. Schon diese Feststellung allein muss Engagement auslösen.

2. Die Menschenrechte und der Zustand des Planeten Erde. Ich hatte nach der Befreiung das Glück, mich an der Formulierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beteiligen zu können, die am 10. Dezember 1948 von den Vereinten Nationen im Palais de Chaillot in Paris verabschiedet wurde. Dass am Ende von "universellen" Rechten die Rede war, verdanken wir René Cassin, der 1968 den Friedensnobelpreis erhielt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ging es um die Befreiung von den Gefahren, die der Totalitarismus der Menschheit gebracht hatte. Dazu war es notwendig, dass die Vereinten Nationen sich zur Achtung universeller Rechte verpflichteten. Auf diese Weise kann ein Staat, der die Menschenrechte auf seinem Territorium verletzt, sich nicht auf seine Souveränität berufen. Das tat Hitler, der meinte, in seinem Land uneingeschränkter Herr zu sein und auch das Recht auf einen Völkermord zu haben. Die Erklärung der Menschenrechte verdankte viel dem weltweiten Abscheu vor Nazismus, Faschismus und Totalitarismus und auch dem Geist der Résistance. Ich spürte, dass wir uns beeilen mussten und dass wir uns nicht täuschen lassen durften von der bei manchen Mächten nur geheuchelten Zustimmung zu Werten, die zu fördern sie durchaus nicht die Absicht hatten, die wir ihnen aber aufzuzwingen versuchten.

Den jungen Menschen sage ich: Schaut euch um, dann werdet ihr die Themen finden, die eure Empörung rechtfertigen

- die Behandlung der Immigranten, der Illegalen, der Sinti und Roma. Ihr werdet auf Situationen stoßen, die euch drängen, euch gemeinsam mit anderen zu engagieren. Wenn ihr sucht, werdet ihr finden.

Wir müssen lernen, den Weg der Gewaltlosigkeit zu gehen

Die Zukunft gehört der Gewaltlosigkeit und der Versöhnung der unterschiedlichen Kulturen. Das ist der nächste Schritt, den die Menschheit wird tun müssen.

Und in diesem Punkt bin ich derselben Ansicht wie Sartre: Man kann die Terroristen, die Bomben werfen, nicht entschuldigen, wohl aber verstehen. Sartre schrieb 1947: "Ich gebe zu, dass Gewalt, in welcher Form sie sich auch äußern mag, immer ein Fehlschlag ist. Aber es ist ein unvermeidlicher Fehlschlag, weil wir in einer Welt der Gewalt leben. Und auch wenn es zutrifft, dass der Rückgriff auf Gewalt diese Gewalt nur zu perpetuieren droht, so trifft doch auch zu, dass dies das einzige Mittel ist, ihr ein Ende zu setzen."

Dem füge ich hinzu, dass Gewaltlosigkeit ein sichereres Mittel ist, der Gewalt ein Ende zu setzen. Man kann die Terroristen nicht im Namen dieses Prinzips unterstützen. Die Erkenntnis, dass terroristische Gewalt ihre Wirkung verfehlt, ist weitaus wichtiger als das Wissen, ob man Menschen, die zur Gewalt greifen, verdammen oder nicht verdammen sollte.

Der Begriff der Wirksamkeit enthält ein Moment gewaltloser Hoffnung. Eine gewalttätige Hoffnung gibt es allenfalls in Guillaume Apollinaires Dichtung: "Wie gewalttätig die Hoffnung ist" - aber nicht in der Politik. Im März 1980, drei Wochen vor seinem Tod, erklärte Sartre: "Wir müssen uns klarzumachen versuchen, dass die gegenwärtige Welt, die schrecklich ist, nur einen Augenblick in der langen geschichtlichen Entwicklung darstellt und die Hoffnung stets eine der wichtigsten Triebkräfte der Revolutionen und Aufstände ist.

Die Hoffnung ist das eigentliche Element der Zukunft.Wir müssen begreifen, dass die Gewalt der Hoffnung den Rücken kehrt. Wir müssen der Hoffnung auf Gewaltlosigkeit den Vorzug vor der Gewalt geben. Bei Unterdrückern wie Unterdrückten müssen wir zu Verhandlungen gelangen, um der Unterdrückung ein Ende zu setzen. Dann wird es möglich sein, ohne terroristische Gewalt auszukommen.

Deshalb darf man nicht zulassen, dass sich allzu viel Hass aufstaut.Die Botschaft eines Mandela oder eines Martin Luther King erreicht ihre volle Bedeutung in einer Welt, in der die Konfrontation der Ideologien und der auf Eroberung ausgerichtete Totalitarismus überwunden sind. Es ist eine Botschaft der Hoffnung auf die Fähigkeit der modernen Gesellschaften, Konflikte durch gegenseitiges Verständnis und wachsame Geduld zu lösen.

Dazu ist es erforderlich, sich auf Rechte zu stützen, deren Verletzung unsere Empörung auslöst. Bei diesen Rechten sollte es keine Kompromisse geben.Für einen friedlichen Aufstand. Das allein auf die Produktion ausgerichtete Denken, das der Westen propagiert, hat die Welt in eine Krise gestürzt, aus der sie sich nur befreien kann, wenn sie einen radikalen Bruch mit dem Drang nach "immer mehr" vollzieht, im Finanzsektor, in Wissenschaft und Technik.

Es ist höchste Zeit, dass die Sorge um Ethik, Gerechtigkeit und ein dauerhaftes Gleichgewicht in den Vordergrund tritt. Denn sonst drohen äußerst große Gefahren. Sie können den Planeten Erde für den Menschen unbewohnbar machen.

Dennoch bleibt es wahr, dass wir seit 1948 auch bedeutende Fortschritte gemacht haben. Man denke etwa an das Ende des Kolonialismus und der Apartheid, an den Untergang des sowjetischen Imperiums oder den Fall der Berliner Mauer.

Dagegen brachte das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts einen Rückschritt. Die Gründe für diesen Rückschritt liegen meines Erachtens zumindest teilweise in der Präsidentschaft George Bushs, in den Anschlägen vom 11. September und in den verheerenden Konsequenzen, die die Vereinigten Staaten mit dem Einmarsch in den Irak daraus zogen.

Wir hatten eine Wirtschaftskrise, aber wir haben keine angemessene neue Entwicklungspolitik geschaffen. Der Klimagipfel in Kopenhagen hat zu keiner echten Politik zum Schutz des Planeten vor der globalen Erwärmung geführt.

Wir stehen nun an der Schwelle zwischen den Schrecken des ersten Jahrzehnts und den Chancen der kommenden Jahrzehnte. Aber wir müssen hoffen, wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben

. Die 1990er Jahre hatten große Fortschritte gebracht. Die Vereinten Nationen konnten bedeutende Konferenzen veranstalten wie die von Rio über die Entwicklungspolitik 1992; die von Peking über die Lage der Frauen 1995. Und im September 2000 wurde eine Erklärung über "Acht Milleniums-Entwicklungsziele" verabschiedet, in der zum Beispiel das Ziel formuliert wird, die Armut in der Welt bis 2015 um die Hälfte zu verringern.

Ich bedauere es sehr, dass weder Obama noch die Europäische Union bislang deutlich gemacht haben, worin ihr Beitrag zu einer konstruktiven, auf den Grundwerten basierenden Phase bestehen wird.

Wie soll ich diesen Aufruf zur Empörung beschließen?

Indem ich an die Erklärung erinnere, die wir zum 60. Jahrestag des Programms des Nationalen Widerstandsrats 2004 herausgegeben haben: "Der Nazismus ist besiegt worden dank des Opfers unserer Brüder und Schwestern aus der Résistance und der im Kampf gegen die faschistische Barbarei verbündeten Nationen. Doch die Gefahr ist nicht vollständig verschwunden, und unser Zorn auf die Ungerechtigkeit ist immer noch da."Nein, die Gefahr ist nicht vollständig verschwunden. Und auch weiterhin rufen wir auf zu einem "friedlichen Aufstand gegen die Massenmedien, die unserer Jugend keine anderen Ziele anbieten als Massenkonsum, Verachtung für die Schwächeren und für die Kultur, eine allgemeine Amnesie und eine maßlose Konkurrenz aller gegen alle"

.Den Männern und Frauen, die das 21. Jahrhundert machen werden, sagen wir in tiefer Zuneigung:"Schöpfung ist Widerstand. Widerstand ist Schöpfung."Résistance: Ein Manifest bewegt die Massen In „Jules et Jim“ von Truffaut spielt Jeanne Moreau die Rolle seiner Mutter, die zwei befreundete Männer liebt. „Jules“ ist sein Vater: der jüdische Schriftsteller Franz Hessel.

So filmreif wie die Liebe der Eltern ist das Leben ihres inzwischen 93 Jahre alten Sohnes.Im Widerstand wurde Stéphane Hessel verhaftet, gefoltert, deportiert. In Buchenwald half ihm Eugen Kogon, Verfasser des Standardwerks „Der SS-Staat“, sich die Identität eines verstorbenen Franzosen anzueignen. Jorge Semprún beschreibt diese Überlebensstrategie in „Der Tote in meinem Namen“.

Von de Gaulle wurde Hessel zum Botschafter ernannt. 1948 gehörte er zu den Autoren der „Erklärung der Menschenrechte“. Seit er nicht mehr an die diplomatische Zurückhaltung gebunden ist, engagiert er sich: für die Verfolgten, die Obdachlosen, für Flüchtlinge und Fremde. Gegen jede Ungerechtigkeit.

Er ist Mitglied der Sozialistischen Partei, doch bei der Europa-Wahl kandidierte er für die Grünen.

Er empörte sich über Sarkozys Instrumentalisierung des antifaschistischen Widerstands im Kampf um die Präsidentschaft.

Hessel hielt 2009 am gleichen Wallfahrtsort der Résistance, dem Plateau des Glières, eine Rede. Und hatte mehr Zuhörer als Sarkozy.

Aus dieser Rede entstand der schmale Essay, der seit ein paar Wochen in Frankreich Furore macht: „Indignez-vous!“ (Editions Indigène). Er erscheint in einem Kleinverlag ehemaliger Maoisten in Montpellier. Im Weihnachtsgeschäft war das Pamphlet - dreißig Seiten, drei Euro - ausverkauft. Inzwischen wird nachgedruckt: 900 000 Exemplare beträgt die Auflage.Das ideale Weihnachtsgeschenk mit dem moralischen Mehrwert ist zum gesellschaftlichen Phänomen geworden - und Stéphane Hessel zum Gewissen der orientierungslosen Nation. Er ruft zum gewaltlosen Widerstand gegen die neue Barbarei auf.

Jeder ist wichtig, auf keinen kann man verzichten. Wie damals in der Résistance. Sie hatte ein politisches Programm für den Nachkrieg, an dessen Idealen sich Hessel orientiert, und glaubte an die Revolution. Wie eine Generation lang die linken Intellektuellen des Nachkriegs. Andere gab es nicht.Dann kamen die Neuen Philosophen - Lévy, Glucksmann, Finkielkraut - und überwanden den Marxismus. Die Kommunisten versanken in der Bedeutungslosigkeit, und Mitterrand bekehrte die Sozialisten zum Kapitalismus. Den Gaullismus hat Sarkozy abgewickelt. Noch vor dem Fall der Mauer verkündete der Historiker François Furet 200 Jahre nach 1789 das „Ende der Revolution“.Furet aber sagte auch: Das utopische Denken wird wiederkehren. Selbst die aufgeklärten antitotalitären Intellektuellen, die Bush im Irak unterstützten, solidarisieren sich mit dem zum keineswegs reumütigen Schriftsteller mutierten Terroristen und Mörder Cesare Battisti. Die Theorien der zu Staatsfeinden verklärten Revolutionsromantiker um Julien Coupat (“Der kommende Aufstand“) finden auch in Deutschland ein erstaunliches Echo. Alain Badiou, der sektiererische Marxist, erklärt sich selbst zum weltweit meistgelesenen französischen Philosophen. Die Revolution raunt wieder, und sie bleibt Frankreichs Exportschlager.

FAZ- Jürg Altwegg