NUR ein Boykott der Winterspiele 2021/22 wäre derzeit eine gute Alternative
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Für den Ausdruck «Völkermord» gibt es eine relativ scharfe juristische Definition, zugleich sind mit der Anwendung des Begriffs auch politische Konsequenzen verbunden.
Als Tatbestand des Völkerstrafrechts gilt der Genozid wegen seiner Grausamkeit als «crime of crimes», als Verbrechen der Verbrechen. Den Begriff prägte der polnischstämmige Jurist Raphael Lemkin, der nach einer Bezeichnung suchte sowohl für die Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich als auch für die industrielle Vernichtung der Juden durch die Nazis. Damals verwendete Termini wie Massenmord oder Barbarei taugten nicht, weil es gezielt um die Tötung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe ging.
Völkermorde gab es in der Geschichte immer wieder, in der Neuzeit etwa im Zuge der Kolonialisierung. Die heute bekanntesten ereigneten sich aber in der jüngeren Vergangenheit. Die Ermordung von Hunderttausenden von Armeniern 1915/16 gilt als einer der ersten Genozide des 20. Jahrhunderts. Der Holocaust mit der systematischen Vernichtung von sechs Millionen Juden sowie Zehntausenden von Sinti und Roma ist zum Inbegriff dieses Verbrechens geworden. Unbestritten ist auch, dass die Hutu 1994 in Rwanda einen Völkermord an der Tutsi-Minderheit begingen, der rund 800 000 Opfer forderte. Die Tötung von 8000 Bosniaken in Srebrenica 1995 ist vom Uno-Kriegsverbrechertribunal ebenfalls als Genozid eingestuft worden.
All diesen Geschehnissen sind massenhafte Tötungen gemein. Inzwischen sind die schweren Menschenrechtsverletzungen im Zuge der Unterdrückungs- und Assimilierungskampagne Pekings in Xinjiang gut dokumentiert. Hinweise auf Massaker gibt es jedoch nicht.
Allerdings setzt die Genozid-Konvention solche nicht voraus. Als Völkermord gilt laut dem Abkommen auch, wenn einer Gruppe schwerer körperlicher oder seelischer Schaden zugefügt wird, Massnahmen zur Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe verhängt werden oder ihr Kinder gewaltsam weggenommen werden. Das zielt darauf ab, nicht nur einen offensichtlichen Versuch der Vernichtung eines Volks zu ächten, sondern auch ein «schleichendes» Vorgehen, das dieselbe Folge haben kann. Das Schutzobjekt sei in diesem Fall der Fortbestand der Gruppe, erklärt Oliver Diggelmann, Professor für Völkerrecht an der Universität Zürich. Ein Genozid könne deshalb auch vorliegen, ohne dass eine einzige Person getötet werde. Die Konvention fasse den Begriff weiter, als es der umgangssprachliche Gebrauch vermuten lasse.
Es liegt eine Reihe von Berichten über Methoden in Xinjiang vor, die in diese Richtung gehen. Im letzten Sommer schilderte die Nachrichtenagentur Associated Press (AP), Uigurinnen würden zu langfristigen Verhütungsmitteln wie der Spirale, zu Sterilisierungen und sogar Abtreibungen gezwungen. Demnach sind mehr als zwei Kinder auch ein wichtiger Grund für Inhaftierungen oder hohe Bussen. Interviews mit ehemaligen Gefangenen hätten ein «Klima des Terrors» im Zusammenhang mit dem Kinderhaben gezeigt, schrieb die AP.
Für eine juristische Qualifizierung als Völkermord ist jedoch auch erforderlich, dass solche Handlungen in der Absicht geschehen, eine Gruppe ganz oder teilweise auszulöschen. Wie schwierig ein solcher Nachweis ist, haben die Prozesse vor dem Jugoslawientribunal gezeigt. Trotz all den Kriegsverbrechen, die auf dem Balkan in den neunziger Jahren begangen worden waren, gelang er einzig für das Massaker von Srebrenica. Für Xinjiang sind bis jetzt keine Aussagen hoher Funktionäre bekannt, die auf eine Vernichtungsabsicht hindeuten.
Zudem betrieb Peking mit der Einkindpolitik über Jahrzehnte eine rigorose Geburtenkontrolle für das ganze Land – die allerdings 2015 aufgehoben wurde. Den Rückgang der Geburtenrate in Xinjiang erklärt das Regime mit staatlichen finanziellen Anreizen dafür, weniger Kinder zu haben, und einfacherem Zugang zu Verhütungsmitteln. Die Bevölkerungsgruppe der Uiguren sei zwischen 2010 und 2018 um 25 Prozent gewachsen, während jene der Han-Chinesen in der Provinz nur um 2 Prozent zugenommen habe.
Solange keine geheimen Dokumente oder Aussagen auftauchen, die auf einen konkreten Plan zur mindestens teilweisen Zerstörung der uigurischen Minderheit hindeuten, wird man kaum von einem Genozid im Sinn der Konvention sprechen können.
Erfüllt ist aber möglicherweise der breiter gefasste Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, zu denen das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) diverse Handlungen zählt, die «im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung» ausgeführt werden, darunter Zwangssterilisierung und Freiheitsentzug. Wie der Völkermord zählen auch die Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Völkergewohnheitsrecht, es spielt also keine Rolle, dass China kein Vertragsstaat des ICC ist.
Lediglich in fünf Fällen seit dem Zweiten Weltkrieg haben die USA eine solche Einstufung vorgenommen.
Die ersten beiden Male, während des Bosnienkriegs ab 1992 und beim Massenmord an den Tutsi in Rwanda im Jahr 1994, erfolgte die Festlegung nur unter öffentlichem Druck. Das Zögern hatte mit der Befürchtung zu tun, die USA könnten sich mit der Völkermord-Rhetorik selber unter Zugzwang setzen und zu einer militärischen Intervention gedrängt werden.
Als Genozid anerkannt haben die USA ausserdem den Giftgaseinsatz des Regimes von Saddam Hussein gegen die Kurden im Nordirak, die Massaker in der sudanesischen Region Darfur sowie die Verfolgung der Jesiden und weiterer religiöser Minderheiten im irakisch-syrischen «Kalifat» der Terrorgruppe IS. Bis heute aber hat Washington beispielsweise die Massenvertreibung der Rohingya aus Burma nicht als Genozid eingestuft, sondern «nur» als «ethnische Säuberung».
Der Völkermord-Vorwurf wird zwangsläufig umstritten bleiben. Aus demselben Grund gilt es zu betonen, dass die Menschenrechtsverstösse in Xinjiang inakzeptabel sind – unabhängig davon, ob man sie als Genozid einstuft oder nicht. Es gibt gute Gründe, sie als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu betrachten. Sie zu stoppen, erfordert eine entschlossene Haltung des Auslands und Druck auf die Führung Chinas.
Also wäre NUR ein Boykott der Winterspiele 2021/22 eine gute Alternative